Denis Scheck wurde in den letzten Jahren durch seine Arbeit beim Deutschlandfunk und die ARD-Sendung Druckfrisch (immer am letzten Sonntag im Monat um 23:35) zum bekanntesten Literaturkritiker Deutschlands.
Nicht nur Ute Danzer hält ihn außerdem für klug und sympathisch, weshalb sie ihn auf der Buchmesse in Leipzig zu unserem 25-jährigen Jubiläum nach Unterkrumbach einlud. In der Tradition der Möbelmachergäste von (z.B.) Uwe Timm, Peter Härtling und Herbert Rosendorfer (immer gemeinsam mit der Buchhandlung Lösch organisiert) wünschten wir uns diesmal einen Gast, der unser Streben nach Lebensqualität durch bewusste Einrichtung von Küchen und Wohnräumen literarisch, kulinarisch aber vor allem humorvoll bereichert.
Der Termin am Freitag, den 14.Juni ist vereinbart und jetzt erst fällt uns auf, dass alle anderen Autoren ja eigentlich zur Vermarktung ihrer Bücher erschienen, also fragten wir uns, ob nicht auch der Kritiker selbst eines geschrieben hätte und das hat er zusammen mit der Ärztin und Betriebswirtin Dr. Eva Gritzmann im Jahr 2011:
SIE & ER Der kleine Unterschied beim Essen und Trinken
Nachdem uns kulinarische Zusammenhänge dank der Küchenplanung mit Kunden, der eigenen Ausbildung als Ernährungsexperte und der Zusammenarbeit mit Spitzenköchen in einigen hundert Kochshows durchaus beschäftigen (Kategorie "Die Küche zum Kochen" im Nachhaltigkeitsblog) haben wir es sofort verschlungen (bei mir war es Samstag von 15 bis 22 Uhr) und freuen uns seitdem noch mehr auf seinen Besuch als vorher.
Eigentlich weniger, ob des Grundthemas der Geschlechterforschung, welches zwar ein spannender Aufhänger ist, vor allzu hohen Erwartungen daran aber schon in der Einleitung gewarnt wird:
"Eine Warnung vorneweg: Diese Fragen
werden hier zwar gestellt, die wenigsten davon werden Sie hier aber klar,
eindeutig und befriedigend beantwortet finden."
Es ist
mehr die ebenso neugierige wie phantasievolle Herangehensweise an das kulinarische Thema allgemein, die mich das Buch nicht weglegen ließ. Wie wir es von "Druckfrisch" gewöhnt sind, stellen Grizmann und Scheck wichtige Fragen an Winzerinnen, Metzgerinnen, berühmte
Köche (Jamie Oliver, Vincent Klink, Ferran Adriá und Johanna Meier) aber auch an Autoren wie Frank Schätzing, Donna Leon, Alice Schwarzer und an einige Fachleute.
Statistiken, Asterix und Kannibalismus
Statistiken werden nicht einfach als Beweis von irgendwas aufgeführt, sondern deren potentieller Wahrheitsgehalt aufgrund der Methoden der Datenerhebung kritisch hinterfragt. Da gibt es ausgesprochen unterhaltsame Abschnitte, die den Nato Doppelbeschluss mit dem Champagner von Pommery kombinieren, Sätze von Emil Steinberger und das kulinarische Erbe von Asterix und Obelix. Das erhoffte kulinarische Zitat der namenlosen Britin aus Asterix auf Korsika erwartete ich aber leider vergeblich: "Was tut Ihr sagen? Ich nehme nur kochendes Wasser. Ich finde, es gibt einen köstlichen Geschmack zu Allem." Dafür tauchen die verzichtbaren Erdbeeren für den Zaubertrank, die Schweinskaldaunen, das Käsefondue und natürlich das Wildschwein aus Uderzos Œuvre auf. (Sollte jemand noch Asterix-Zitate suchen, können wir nur die Volltextsuche auf Comedix.de empfehlen.)
Aber es kommen auch ernste Themen zur Sprache: der Kannibalismus während der Kulturrevolution in China zwischen 1966 und 1976, über die der Autor Zheng Yi aus seinem Buch "Scarlet Memorial" zitiert wird. Der Blick auf das Ganze führt wieder zurück nach Deutschland zum Roman "Atemschaukel" über die unfassbaren Geschehnisse in Konzentrationslagern, für den Herta Müller mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Schlusssatz zu den Seiten über das Böse und den Hunger: "Wir in Deutschland erweisen dem Essen zu wenig Ehre."
Im "Moto" kochen Geeks für Nerds und "elBulli" ist ein Hundename
Es war uns schon klar, dass ein Literaturkritiker mit kompetenter und charmanter ärztlicher Begleitung auch in der Rolle des Gastrokritikers überzeugen wird, aber die Ausführungen über die so unterschiedlichen Restaurantbesuche im "Moto" von Chicago und dem "elBulli" von Ferran Adriá an der Costa Brava sind so anschaulich geschildert, dass man – sollte man sich wider Erwarten dort einmal einfinden müssen – das Gefühl hätte, schon mal da gewesen zu sein.
Was Scheck, Gritzmann und der Schriftsteller Jeffrey Eugenides im "Moto" für 1300 Dollar erleben, wäre fast ein eigenes Buch wert: Für die essbare Speisekarte wurden eigens Tintenstrahldrucker umgebaut und spezielle Geschmackstinten entwickelt, der Koch Homaro Cantu besitzt einen leistungsstarken Laser, den man sonst nur aus Operationssälen kennt. Das kulinarisch angezweifelte Ideenfeuerwerk der bis zu zwanzig Gänge wird metaphorisch mit dem Ausflug in die Computerwelt beschrieben: "Geeks kochen für nerds." Für IT-infizierte Menschen leichter verständlich ist wohl der Ausdruck "Infantilisierung der Küche."
"Vorbilder sind dabei weniger die Traditionsgerichte der grande cuisine als Klassiker ganz anderer Art, nämlich Würstchenschnappen, Topfschlagen oder Schokolade -mit-Handschuhen-essen. Ob man Cantus zeitgemäße Adaptionen dieser Evergreens als kulinarische Sketchparade oder Geisterbahnfahrt erleben wird, hängt von der individuellen Toleranz für den Geschmack einer amerikanischen Kindheit ab …"
Ganz anders im "elBulli," dem anerkannt besten Restaurant der Welt, das mit dem vom Chef Ferran Adriá ungeliebten Ausdruck der "Molekularküche" bekannt wurde. Es liegt an der Costa Brava, das Restaurant wurde in den 1960er Jahren von dem deutschen Ehepaar Schiller aus Düsseldorf gegründet und nach ihrer Bulldogge "Bulli" benannt. Es ist im Moment geschlossen und soll als Stiftung, gastronomische Forschungs- und Ausbildungsstätte neu eröffnet werden.
Scheck schreibt: "Ferran Adriá steht unter Strom. Eine mexikanische Springbohne in Menschengestalt." Zum Hauptthema des Buches, der kulinarischen Genderforschung, äußert er sich leider nicht sehr hilfreich:
"Die Unterscheidung nach Männern und Frauen ist (dabei) vollkommen irrelevant. … In der Küche spielt für mich die Frage nach dem Geschlecht einfach keine Rolle. Ich bin kein Macho. Ich sehe einfach den Menschen."
Den bildlichen Vergleich des "Moto" und des "elBulli" kann man ebenfalls nur als Zitat wiedergeben:
"Homaro Cantu und Ferran Adriá – das ist der Unterschied zwischen Micky Maus und Tischlein-deck-dich. Während in Chicago permanent Kindergeburtstag gefeiert wird und so routiniert, aber auch so seelenlos wie in Disneyland pünktlich um 17 Uhr ein Feuerwerk abgebrannt und eine Parade veranstaltet wird, erzählt man an der Costa Brava ironische Märchen für Erwachsene: kulinarische Feengeschichten mit oft überraschendem Ausgang, unvorhersehbar und unberechenbar."
Capsaicin, Slow Food und Cittaslow
Manchmal fühlt man sich auch ertappt. (Meist) männliche Neurosen rund um das Capsaicin der unterschiedlichsten Chilipflanzen (am Döner heißt es "Schaaf") werden anschaulich und wissenschaftlich erklärt und auch die männliche Geräteverliebtheit (die wir schon deshalb verteidigen, weil sie einen Teil unseres Umsatzes ausmacht) auf die Schippe genommen.
Als weitere Parallelen zu unserer Arbeit erweisen sich die Sätze über Slow Food und Cittaslow (im Buch wird Nördlingen erwähnt), denn wir haben das Slow Food Convivium Nürnberg 1997 mitbegründet und wir hatten das Glück, die erste Cittaslow Deutschlands, Hersbruck, mit-initiieren zu dürfen. Um dieses "Slow-Thema" drehten sich unsere Werkstatt-Tage 2012 und sie sind aus verantwortungsvollen Diskussionen über die Ernährung auch nicht wegzudenken. Denn es geht um die Frage, welche Tiere wir mit gutem Gewissen essen dürfen. Starkoch Vincent Klink dazu:
"Wir erleben eindeutig einen Triumph der Nahrungsmittelindustrie, die vergessen lassen will, dass Fleisch von einem lebendigen Tier stammt."
Und der Literaturchef des New Yorker sagt im Interview:
"Regional essen bedeutet zunächst schlicht: besser essen. … Kochen ist nun mal der grundlegende Zugang zum Verständnis der Ernährung."
Tja und dann schweift der Gedanke wieder zu unseren Direktvermarktern der Herbsrucker Alb unter dem Dach von "Heimat auf´m Teller", zu unseren regionalen Anforderungen an Lebensmittel und Holz und zu den Kochshows, in denen wir seit dem Jahr 2000 genau diese Ideen den Zuhörern und Testessern schmackhaft machen wollen.
Leider habe ich im Buch nur einmal das Wort "Möbel" entdeckt, ausgerechnet in der Frage "Warum geben die Deutschen ihr Geld gern für Autos, Reisen und Möbel aus, nicht aber für Nahrungsmittel?"
Hachja, wenn man die erschreckenden Infos über die weltweite Produktion von Billigmöbeln, verbrecherische Waldausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen gesammelt und zugänglich gemacht hätte, wie der Film "We feed the World" über die Lebensmittelbranche (den Scheck empfiehlt und den wir schon kostenlos im Herbsrucker Kino zeigten), dann würde wohl auch der Wert von Möbeln aus dem Holz der Region leichter vermittelbar.
Es war ein besonderes Erlebnis der kulinarischen, sprachlichen und humorvollen Art Eva Gritzmann und Denis Scheck auf ihrem lustvoll-lehrreichen Streifzug durch die Esskultur begleiten zu dürfen. Also vertrauen sie uns, wir wissen was war tun: Lesen Sie "SIE & ER, der kleine Unterschied beim Essen und Trinken", erschienen 2011 bei Bloomsbury Berlin und kaufen Sie das Buch in Ihrer Buchhandlung, in der Sie auch in Zukunft noch das Einkaufserlebnis genießen wollen.
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Alle Buchempfehlungen im Nachhaltigkeitsblog
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