30 Jahre Möbelmesse, jetzt fällt sie aus
Seit 3 Jahrzehnten besuche ich die Kölner Möbelmesse regelmäßig, heute würde die Ausgabe 2021 beginnen. Bald fing ich an, quasi als „Gegenwartsforscher“ darüber Berichte in der Zeitung zu veröffentlichen. Nicht zuletzt daraus entstand dann 2005 auch das Nachhaltigkeitsblog. Dort sind seit 2006 42 Artikel, manchmal sogar 4 pro Messe, nachzulesen. Auch in unseren Jahrbüchern – das Aktuelle ist die 25. Jubiläumsausgabe – berichten wir über Trends beim Einrichten.
Durchaus kritisch übrigens, denn selbst die am schönsten aussehenden Trends in Richtung Massivholz waren – wenn man es nach Ausstellungsquadratmetern oder Umsatz im Handel betrachtete – eigentlich überschaubarer Natur. Nur selten sieht man etwas wirklich Neues, aber dann stellt sich oft die Frage, ob man das braucht, wie zum Beispiel den „Aspirator“ der tollen Chinesin Qing Deng, die wir auf der Messe kennen lernen durften.
Die Trendmeldungen der Messe und der Fachzeitschriften wie zum Beispiel „Möbelkultur“ folgen einem gewissen Zwang zur Berichterstattung, der Leser will etwas Neues hören, also muss man etwas finden. Sollte es das schon ewig geben, muss es spätestens ab jetzt einfach zum Trend erklärt werden.
Homereport und Möbelkultur anstatt Messe?
Die Möbelmesse ist also abgesagt und immer wieder tauchte im Netz der Begriff „Hoffice“ auf, der sich – wie erwartet – als Abkürzung von „Home-Office“, aber zusätzlich auch nach „Hoffnung“ ziemlich schick anhört. Er stammt von der ob ihrer unterschiedlichen Berufungen beeindruckenden Frau Oona Horx-Strathern (Jg 1963). Deren vorderer Nachname klingt für Insider nach Zukunftsforschung und sie ist tatsächlich die Ehefrau von Matthias Horx, der 1998 das bekannte Zukunftsinstitut gründete. Sohn Tristan ist ebenfalls Zukunftsforscher und diente als Interviewpartner, Sohn Julian Horx machte grafische Elemente. Fast eine Familiengeschichte also.
Im Mutter-Sohn Interview, (auch eine geschickte PR-Idee) spricht sie über den Abschied vom „Ikeaism“:
„Wir haben dieses Jahr gezwungenermaßen mehr Zeit zuhause verbracht und uns ist plötzlich aufgefallen, was alles fehlt und wie man sich dort noch mehr wohlfühlen könnte. Doch anstatt nur zu konsumieren, reflektieren immer mehr Menschen über das Thema der Nachhaltigkeit in der Möbel- und Baubranche. Die Tendenz ist, dass man sich vom „Ikeaism“ verabschiedet. Parallel zu DIY (Do It Yourself) suchen wir nach professionellen Alternativen, bei denen wir genau nachfragen können, woher die Möbel kommen oder welche Materialien für den Bau benutzt wurden.“
In ihrem dritten Homereport über die Entwicklung des Wohnens (der erste, den ich mir für 150 Euro für 116 Seiten gegönnt habe), gibt es ganz viele neue Begriffe, die sich ja von denen der letzten Jahre abheben müssen. Bin etwas enttäuscht, dass viele Fotos, die ja eigentlich Beleg für ihre Thesen sein sollten, als Stockfotos gekauft oder sogar aus kostenlosen Quellen stammen, aber gut.
Drei Thesen zur Entwicklung des Wohnens
- „Romancing the Balkony“ ist nicht das Romanschreiben auf oder über den Balkon, sondern die Romantik, die man beim Klatschen für Pflegeberufe dort entdeckt hat. „Romancing the Balkony“ nennt man jetzt den Urlaub in Balkonien und auf Terrassen oder auch das Aufpeppen derselben. Der Unterschied zwischen den Lebensverhältnissen in der Stadt und auf dem Land wird hier besonders deutlich.
- „Home Suite Home“ heißt das „Nach Hause holen“ des Hotel-Feelings mit der vermissten Atmosphäre der Weltreisenden. Spätestens beim Abspülen des schmutzigen Geschirrs wird das Hotelfeeling wie ein Soufflé beim verfrühten Aufreißen der Backofentür wohl zusammenbrechen: Die Annehmlichkeiten des Hotels liegen doch nicht in der besonders schicken Einrichtung (zumindest nicht in den Hotels, die ich erlebt habe, da wohnen unsere Kunden zuhause meist schöner), sondern in der Übernahme der Arbeiten, die man zuhause selbst erledigen muss.
- Dem Trend zum bereits erwähnten „Hoffice“ wurden wir im letzten Jahr auf der Homepage durch die neuen Seiten fürs Home-Office, das Frauenzimmer und die vielen Artikel über die höhenverstellbaren Schreibtische gerecht.
Wohin mit dem Hoffice? Küche, Wohn- oder Schlafzimmer?
Wir hatten im letzten Jahr viele Diskussionen, wo unsere höhenverstellbaren Schreibtische am besten untergebracht werden, wenn die Wohnung kein Arbeitszimmer bereithält. Unterscheiden muss man dabei zunächst mal, ob man eine videokonferenztaugliche Umgebung braucht oder ob man auch am Esstisch mit Unterhaltung während des Kochens arbeiten kann, was die Sache deutlich erleichtert.
Denn selbst mit Glasschiebetüren wird es schwierig, Kinder akustisch und optisch von Kamera und Mikrofon fernzuhalten, weshalb wir oft ins Schlafzimmer wechselten und dort zum Beispiel mit einem Paravent aus Filz von ann idstein die Arbeit vom Schlafen trennten.
Ändert sich auch die Gestaltung von Küche-Essplatz-Wohnzimmer?
Auf Seite 8 erzählt Horx-Strathern von Architekten, die in Brooklyn ein Wohnhausprojekt coronabedingt noch kurzfristig änderten und Küche, Essplatz und Wohnzimmer voneinander abgrenzten. Auf diesem Weg sollen mehr Rückzugsorte geschaffen werden. Immer wieder diskutieren wir die Frage Offenheit oder Abgrenzung mit Kunden und eine akustische Trennung zwischen Wohnzimmer und Küche-Essplatz macht zum Beispiel Sinn, wenn im Wohnzimmer ein Fernseher steht. Denn zu den Nebengeräuschen von Bugs Bunny oder James Bond will man nicht kochen. Der Schiebetür zwischen Küche und Essplatz wird es aber wohl ergehen, wie den meisten Schiebetüren: sie wird nie geschlossen werden. Ob es dann eine „Trophy Kitchen“ (so nennt Horx-Strathern „Statusküchen“ mit wenig Kochfunktion) oder wie bei uns meist eine handwerklich optimierte „Küche zum Kochen“ (Otl Aicher 1982) wird, entscheiden die Kunden.
Regionalität heißt jetzt „Hyperlokalisierung“
Eine entscheidende, positive Entwicklung, die aus der Coronakrise hervorgeht, ist die Co-Immunity (Community + Immunität). Damit bezeichnet Oona Horx-Strathern die Wiederentdeckung der Freude am Lokalen, genauer gesagt an der Schönheit und Bequemlichkeit des Lokalen. Nunja, ich vermute, dass Städter Regionalität noch anders erleben, als wir Landeier: Frau Horx-Strathern schreibt auf Seite 5 ganz verklärt, sie wäre bei Ihren coronabedingten Ausflügen in die nähere Umgebung „gerührt von dem wiederbelebten Bedürfnis nach menschlicher Verbundenheit“ gewesen.
Das wird auf uns gemeine Bewohner der Hersbrucker Alb wohl kaum zutreffen, da ist der Einkauf bei unseren Direktvermarktern der normale Alltag. Dafür zählen wir in der großen „Wohntrend-Map“ (Seite 14) dank unserer Cittaslow-Mitgliedschaft seit genau 20 Jahren in der Schnittmenge aus den Megatrends „Urbanisierung“ und „Neoökologie“ zur „progressiven Provinz“ und eben zur Slow City (bin mir nicht sicher, ob sie genau unsere Vereinigung der lebenswerten Städte meint, oder etwas Allgemeineres).
Ist Holz ein „Hero Material“?
„Materialien sind mehr. Längst werden sie nicht mehr als Mittel zum Zweck verstanden, mit dem wir unseren Wohn- oder Lebensraum gestalten. Mit Materialien drücken wir unsere Individualität aus, sie geben uns ein wohlig-warmes Gefühl, beruhigen uns oder regen uns an. Mit ihnen setzen wir ein Statement oder senden eine Botschaft aus. Aber sie können auch Antworten auf aktuelle und künftige Herausforderungen geben. Immer mehr Hersteller und Herstellerinnen rücken den Social Impact ihrer Produkte in den Mittelpunkt: Materialien besitzen ein transformatives Potenzial, die Welt ein Stück besser zu machen – und die Leichtigkeit, manche drängenden Probleme ganz einfach „materialistisch“ zu lösen.“ (auf Seite. 105 des Homereports)
Authentizität und Qualität seien immer noch zentrale Werte, allerdings gehen Pioniere noch einen Schritt weiter und hauchen den Materialien eine Spur Aktivismus ein. Erst durch die Denkweise Materialien in einen Kreislauf zu bringen (Cradle to Cradle) werden Materialien zu „Hero Materials“. Im Wandel von der „grünen“ zur „blauen“ Ökologie stehen folglich nicht Verzicht und schlechtes Gewissen im Vordergrund, sondern zukunftsoptimistische Lösungsansatze, die Mensch und Technik nicht als Problem, sondern als Schlüssel für eine neo-ökologische Zukunft sehen.
In diesem Zusammenhang sehen wir Holz nicht per se als „Hero Material“, sondern nur dann, wenn es „Social Impact“ und das „transformative Potential“ beinhaltet (hihi, klingt cool, oder?). Für uns ist dies dann der Fall, wenn es sich um Massivholz aus der Umgebung handelt, deshalb kurze Transportwege und super CO2 Werte hat, wenn es dadurch regionale Wirtschaftskreisläufe unterstützt und vor allem, wenn es als „Multi-Gen-Möbel“ (auch ein lustiger neuer Begriff) verarbeitet wird. Unsere „regionale Waldschöpfungskette“ erzeugt sowieso schon Küchen und Einrichtungen als Mehrgenerationenmöbel. Aber durch die unendlichen Möglichkeiten zur Anpassung an die Wünsche neuer Besitzer und zusätzlich der Garantie, dass wir unsere Möbel auch zurücknehmen und via Facebook oder Newsletter neue Liebhaber dafür finden, können wir mit Fug und Recht unsere Massivholzmöbel als „Hero Materials“ bezeichnen. Das Material ist das eine, die Planung das andere.
Zukunftsorientierte Planung
Bei allen Möbelplanungen denken wir auch an die Zukunft dieser Möbel.
- So sind unsere Schlafzimmermöbel meist aus einzelnen Schränken zusammengesetzt, weshalb wir schon öfter Lieblingsschränke in Seniorenheime umziehen konnten, in die die klassische Schlafzimmerwand nicht gepasst hätte.
- Massivholzküchen haben keine „Sichtseiten“, so dass die Schränke an einem neuen Standort beliebig neu angeordnet und weiterverwertet werden können
- Griffe, Türfüllungen, Möbelfüße, die Inneneinteilungen unserer Möbel passen wir problemlos an die Wünsche der neuen Besitzer an.
Frauen in der Architektur und Baubranche
Von allen Kapiteln des Homereports hat mich der über den zu geringen Einfluss der Frauen auf die Stadt- und Wohnplanung und die Hintergründe dazu am meisten beeindruckt. Es sind männliche Verhaltensmuster, die die Gestaltung unserer Städte beeinflussen und es gibt viele nachvollziehbare Gründe, das zu ändern. Wir freuen uns über unsere höchste weibliche Ausbildungsquote Deutschlands und fünf Frauen im 14-köpfigen Team, davon drei mit Hochschulabschluss, eine Meisterin und Bayerns beste Sekretärin. Also hoffen wir mal, dass bei den Möbelmachern männliche und weibliche Denkweisen gleichberechtigt in die Planungen einfließen – unsere Architektur-Praktikantin Lisa Miller hat dazu gerade zwei interessante Blogartikel geschrieben – aber viele Gedanken und Kontaktadressen zum „gendergerechten Bauen und Planen für mehr Lebensqualität für alle“ änderten meine Sichtweise auf Stadt- und Wohnkultur.
Unsere Zukunft des Wohnens
Wie fast alle Bücher, die ich durcharbeite, habe ich auch diese 116 Seite komplett mit Gedanken vollgekritzelt. Die Kommentare reichen von „grandios“ über „nachdenkenswert“ bis zu „Kontakt aufnehmen“ oder auch mal „Blödsinn“. Insgesamt waren mir diese wenigen Seiten das viele Geld schon wert. Eine Zukunftsforscherin ist immer auch Verkäuferin und am besten verkauft sich natürlich Optimismus. Und den liest man auch am liebsten.
Wir haben das Glück, dass wir für unsere Kunden genau die Einrichtung verwirklichen können, die sie sich im Jetzt und Hier wünschen, aber wir weisen auch immer auf die Möglichkeiten der Weiterverwertung hin.
Auch Horx-Stratherns Mann Matthias Horx äußert sich in seinem neuen Buch „Die Zukunft nach Corona“ sehr zuversichtlich zum positiven Veränderungspotenzial der Krise, und das wählen wir hier als inspirierendes Schlusswort:
„Wir merken im Bereich Wohnen sehr wohl, dass es substanzielle Veränderungen gibt. Der Wunsch nach Möbeln, die länger halten, die eine Geschichte erzählen, spiegelt auch den Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit, nach einer Alternative zur sogenannten Wegwerf-Ökonomie, der wir ja alle leider auf die eine oder andere Weise immer noch verhaftet sind, wider.“
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